Freitag, 18. Juli 2014

Achtsamkeit, wenn alles ganz anders kommt

Alles war so schön, wir haben das Abitur unseres Großen gefeiert, waren (und sind es auch immer noch!) stolz und freuten uns auf die Ferien.

Nur ein paar Tage später kam die Nachricht, dass mein jüngerer Bruder vermisst wird. Nach bangen Stunden des Suchens fand man ihn. Er lebt leider nicht mehr.

Irgendwann am Abend habe ich nach den letzten Fotos von ihm gesucht. Dabei fiel meine Tasse um und tränkte leicht, aber ausreichend, die Tastatur  meines MacBooks.
Die Waschmaschine lief auf 60 statt auf 30 Grad...

 Zeit zum Innehalten.

Ich dachte, ich kann oder muss meinen Verpflichtungen um Haus und Arbeit trotzdem "einfach" weiter nachgehen. Arbeit lenkt ja ab, sagt man ...
Aber kann man sich den Kunden gegenübersetzen, wenn man Tränen in den Augen hat, wenn man in Gedanken ganz woanders ist?
Wie soll man überhaupt schlafen können nach so einer Nachricht? Die man gar nicht fassen kann?

Es ist Zeit, sich achtsam dem zuzuwenden, was da gerade ist. Nicht die Augen verschließen.
Anschauen, was diese Nachricht mit mir macht, was in mir vorgeht.
Nicht einmal der Autopilot funktioniert ja mehr richtig (Kaffee, Wäsche...). Wieso sollte ich das dann können?

Wahrnehmen, wie es mir in diesem Moment geht:
Es berührt mich mehr, als ich mir je habe vorstellen können. Er war ein Teil meines Lebens, meiner Kindheit, meiner Familie.
Ich erinnere mich sofort an frühe Erfahrungen mit meinem kleinen Bruder... und an schöne Begegnungen.

Bevor die daraus aufkeimenden Gedanken mir die Nachtruhe rauben, löse ich mich von meinen Wahrnehmungen und Gefühlen wieder.
An dieser Stelle bin ich sehr dankbar, dass ich Erfahrungen und Übung in Achtsamkeit habe.

Ich beginne mit dem einfachsten und wirkungsvollstem. Der Konzentration auf den Atem.

Solange ich lebe,  kommt und geht mein Atem,  ohne,  dass ich etwas dazu tun muss. Darauf kann ich mich verlassen.  Ich beobachte, wie ich ein- und wie ich ausatme. Kommen mir Gedanken, dann lasse ich sie weiterziehen,  und konzentriere mich wieder auf meinen Atem.
Nichts ist jetzt gerade wichtiger.

Ich bin ganz ruhig geworden und habe gut geschlafen.

Ich gebe mir in den folgenden Tagen immer wieder kurze Zeiten, in denen ich wahrnehmen kann, wie es mir geht, welche Gedanken aufsteigen. Ich nehme wahr, wie traurig ich bin und dass ich bedauere, dass mein Bruder nicht alle seine Geschenke, die ihm das Leben mitgegeben hatte, nutzen konnte.
Aber es gibt keine Vorschriften, ob und wie man seine Gaben nutzen muss. Jeder hat die Freiheit und ist selbst dafür verantwortlich, wie er sein Leben gestaltet.

Ich schaue sogar von außen auf mich. Was für ein Wandel in meinem Leben. Leid und Freude und Leid wechseln sich ab, alles in nur einem Jahr. Ich habe Mitgefühl für mich selbst.

Dann lebe ich im Hier und Jetzt weiter. Langsamer. Geduldiger. Ich lasse mich nicht von den Gedanken, die in solchen außergewöhnlichen, nicht alltäglichen Momenten auftauchen (z.B. haben wir nicht gut genug auf ihn aufgepasst?), vereinnahmen. Da kommen ängstliche, mahnende, vorwurfsvolle oder auch belehrende Stimmen zu Wort, die mit irgendwelchen früheren Erlebnissen oder Begegnungen verknüpft sind. Das dürfen sie gern, aber dann dürfen sie auch gerne wieder gehen. Siehe hier.

In diesen Tagen reden wir viel miteinander... die ganze Familie.
Wir überlegen auch, wie der Abschied aussehen kann. Und was jeder braucht, um gut damit umgehen zu können.
Mein Bruder hatte keine eigene Familie. Sein einziger Mitbewohner hat ein graues Gefieder und kann sogar ein paar Worte sprechen.



Dieser kleine Bronzevogel, der auf einem Ibbenbürener Fluss-Stein sitzt, ist ein Gruss an meinen Bruder. Leb' wohl, kleiner Bruder, mögest Du dort, wo Du jetzt bist, geborgen sein!




Trost finde ich auch in einer Darstellung von Ulrike Hirsch. Sie schreibt auf ihrer Homepage dazu:

"Der Schmerz ist Teil unseres Menschseins. Das Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben, gehört genauso dazu, wie das Gefühl, etwas Wertvolles gewonnen zu haben. Beide Seiten sind Teil des Lebens."

Sie hat ein Segensbild gemalt, das einen Menschen zeigt, der heimwärts fliegt in das Herz des Universums. Die Hinterbliebenen stehen am Horizont und winken ihm zu. Sie lassen ihn in Liebe los und empfangen dankbar den Segen, den ihnen sein Menschsein auf der Erde geschenkt hat...
Sie möchte mit dieser Karte allen Hinterbliebenen Trost und Mitgefühl vermitteln – und auch das wertvolle Wissen, dass ihr geliebter Mitmensch geborgen ist im Herzen des Universums, dort, wo alles beginnt und endet…






Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Achtsamkeits-Reihe in dieser Art fortsetzen würde, aber auch dieses Thema, vor dem wir allzu gerne die Augen verschließen, weil es weh tut, ist ein Teil unseres Lebens und eins, wo uns Achtsamkeit auch sehr nützlich sein kann.


PS. : Das MacBook ist gerade wieder "geheilt" und der Wäsche haben komischer- (und glücklicher)weise die höheren Temperaturen auch nicht geschadet. Inzwischen ist es 2 Wochen her und alles geht wieder etwas leichter. Anders leichter.

8 Kommentare :

  1. Liebe Sabine, ich denke an dich, drücke dich und wünsche dir, dass es weiter geht, noch leichter, anders leichter... Dass du deinen Schmerz und deine Gedanken dazu schon so gut in Worte fassen kannst. Dein Post ist so berührend und bewegend, ich hebe ihn mir auf... Mögen ihn viele lesen. Ganz ganz liebe Grüße dir und deiner Familie Ghislana

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  2. Vielen lieben Dank, liebe Ghislana!

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  3. Liebe Sabine, ein bisschen blieb mir das Herz stehen, als ich die dritte & vierte Zeile deines Posts las: Vor 11 Jahren erging es mir ebenso. Mein kleine Bruder verschwand, einen Abschiedsbrief hinterlassend. Drei Tage später wurde er gefunden...
    Es hat unser ganzes Leben umgekrempelt, vieles auch zum Positiven. Ich habe darüber einiges gepostet..
    Ja, und es stimmt: Seit ich den Schmerz kenne, ist mein Leben reicher. Nicht einfacher, keineswegs, aber tiefer, echter...
    Ich wünsche dir & deiner Familie viel Zeit fürs Trauern!
    Herzlichst
    Astrid

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    1. Liebe Astrid, Dankeschön. Deine Posts würde ich gerne lesen. Hättest du einen Link?
      Liebe Grüße, Sabine

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  4. Liebe 8same Sabine,
    das ist tief bewegend, was Deinem Bruder,Dir, Deiner Familie geschieht, geschehen ist. Ich wünsche Euch ALLEN Liebe und Kraft.
    Ja, das Leben wird anders. Nicht leichter und nicht schwerer aber doch anders.

    Liebe Grüße
    Erika

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  5. liebe sabine, ich wünsche euch allen, und vor allem dir, jetzt ganz viel kraft. schaut nach vorn und behaltet eure schönen erinnerungen.
    ganz viele liebe grüße
    mickey

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  6. Liebe Sabine,
    ich wünsche Dir dass Du liebe Menschen um Dich hast die Dir Kraft geben können.
    Die Erinnerung und die Liebe an einen Menschen bleiben für immer.
    judika

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  7. Danke, Ihr Lieben. Der schwerste Gang steht uns noch bevor, aber es ist schön, wie die Familie und die Freunde zusammenstehen und sich Kraft geben.

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